Sehen und gesehen werden – dieses Bedürfnis haben nicht nur die „Schönen und Reichen“, die gesellschaftliche Ereignisse als Bühne der Selbstdarstellung und zur Kontaktpflege für sich zu nutzen wissen. Es ist ein allgemein menschliches Grundbedürfnis. Schon Neugeborene suchen den Kontakt, wollen gesehen und gespiegelt werden. Nur in der Resonanz mit anderen entwickeln Menschen ihre Identität.
Das Schauen und das Gesehen-Werden versichert uns unseres Standortes in der Welt. Es ist eine schmerzliche Erfahrung, übersehen oder verkannt zu werden oder nicht sichtbar zu sein. Manche gieren deshalb regelrecht nach Anerkennung und tun alles dafür. Sie lassen sich operieren, betreiben exzessiv Sport, kaufen Statussymbole, arbeiten bis zum Umfallen, verlieren sich in fremden Ansprüchen. Wunde Punkte und Unzulänglichkeiten werden meist verborgen, denn wer die zeigt, macht sich angreifbar. Doch wer wirklich gesehen wird, in seinem Wesen, in seiner Haltung, in seiner Not, und wer dabei nicht verurteilt oder bewertet wird, erlebt große Freiheit.
Im Bibelvers, der uns als Jahreslosung durch das Jahr 2023 begleitet, geht es um solch heilsames Gesehen-Werden. Hagar, die Magd Abrahams und Saras, soll als Leihmutter ein Kind für Sara austragen. Als Hagar schwanger wird, entstehen Konflikte. Hagar flieht aus der für sie bedrückenden Situation. Nun sitzt sie mutterseelenallein in der Wüste und wird von einem Engel gefunden. „Woher kommst Du, und wo gehst Du hin?“ – fragt er sie. Hagar kann nur die erste Frage beantworten: „Weg von Sara, meiner Herrin!“ Wohin sie geht, weiß sie nicht. Sie ist so sehr in der Ausweglosigkeit ihrer Lage gefangen, dass sie keine Zukunft für sich sieht.
Die zeigt ihr der Engel auf: Das Kind wird Zukunft haben, sagt er. Ismael soll sein Name sein, „Gott hat erhört“. Aber mehr als das Gehört-Werden, ist das Gesehen-Werden für Hagar der Grund neuer Hoffnung. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“, erkennt sie und hat die Kraft, wieder zurückzugehen. Ihre Gegenwart hat sich durch den Blick Gottes verwandelt. Sie weiß nun: Er hat ein Auge auf sie, er sieht, wie es ihr geht und was sie braucht. Sie muss sich nicht verstecken und verstellen. Das Angesehen-Sein wird für sie zu einer Quelle neuer Lebendigkeit.
In Hagar können sich viele wiederfinden: Menschen, die sich fremd und unbeachtet fühlen, Menschen, die keine Hoffnung auf eine gute Zukunft haben, Menschen, die sich danach sehnen, dass jemand sie wirklich sieht und trotzdem achtet. Und gleichzeitig kann uns die Jahreslosung auf die aufmerksam machen, die in unserer Gesellschaft oder auch in unserem unmittelbaren Umfeld übersehen oder ausgegrenzt werden und für die wir zu einem Engel, zu einem Boten Gottes werden können. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ - möge das für viele eine heilsame Erkenntnis werden in diesem Jahr.
Ich wünsche Ihnen einen guten Beschluss und Gottes Segen für 2023!
Ihre Dekanin
Kerstin Baderschneider